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Der Irrsinn der Ordnung – Ephraim Kishons »Blaumilchkanal« als #Parabel der #Bürokratie
#Gütersloh, 21. Oktober 2025
Manchmal genügt ein einzelner Mensch, um ein ganzes System bloßzustellen. In Ephraim Kishons #Satireroman »Der #Blaumilchkanal« ist es ein Irrer – Kasimir Blaumilch, aus der Anstalt entflohen, mit einem Presslufthammer in der Hand und einem rätselhaften Auftrag im Kopf: Er beginnt, mitten in #Tel #Aviv die #Hauptverkehrsstraße #Allenby #Road aufzureißen. Ohne Genehmigung, ohne Plan, ohne Ziel.
Ein normal funktionierendes System würde so etwas binnen Minuten stoppen. Doch genau das geschieht nicht. Die #Polizei glaubt, es handle sich um ein #Straßenbauprojekt. Das #Bauamt vermutet, die #Stadtverwaltung habe den Auftrag erteilt. Die Stadtverwaltung wiederum geht davon aus, dass das #Verkehrsministerium zuständig ist – und dort will man den Vorgang lieber nicht infrage stellen, um keinen Fehler zu riskieren. Also wird die absurde Baustelle verwaltungstechnisch legitimiert, finanziert, beaufsichtigt und schlussendlich stolz präsentiert.
Blaumilch gräbt weiter. Aus dem ersten Loch wird eine Schneise, aus der #Schneise ein #Kanal – und aus dem Kanal bald ein #nationales #Großprojekt. Überall werden Pläne gezeichnet, Protokolle verfasst, Verantwortlichkeiten verteilt. Politiker reisen an, um sich fotografieren zu lassen. Der Irrsinn wird zum offiziellen Fortschritt erklärt. Tel Aviv wird umgepflügt – und niemand hält inne.
Schließlich ist das Werk vollbracht: Die Stadt besitzt nun einen schmalen, völlig nutzlosen #Wasserlauf mitten durch die Innenstadt. Zeitungen schreiben vom »#Venedig des Nahen Ostens«. Eine feierliche #Eröffnung mit #Reden, #Fanfaren und #Sekt markiert den Triumph der #Bürokratie über die #Vernunft. Blaumilch selbst verschwindet in der Menge, sein #Wahnsinn ist institutionalisiert, seine Tat zum Monument des Systems geworden.
Kishon erzählt das mit der Eleganz eines #Slapsticks und der #Präzision eines #Politologen. »Der Blaumilchkanal« ist nicht einfach eine Komödie über Behörden, sondern eine Parabel über Pflichterfüllung ohne Sinn. In dieser Welt ist niemand böse, niemand korrupt – und doch zerstört das System sich selbst, weil alle »ordnungsgemäß« handeln. Der größte Irrsinn entsteht, wenn jeder alles richtig macht.
Das ist Kishons Meisterleistung: Er zeigt, dass Bürokratie kein Auswuchs ist, sondern ein Organismus, der sich aus Angst und Routine selbst erhält. Jeder will korrekt erscheinen, niemand will Schuld tragen, also tut man lieber nichts – oder noch schlimmer: man tut weiter. Aus der Angst vor Fehlern entsteht das perfekte perpetuum mobile des Wahnsinns.
Blaumilch, der Irrsinnige, ist darin der Einzige, der wirklich handelt. Er ist sinnlos, aber echt. Die anderen sind rational, aber hohl. Kishon kehrt die moralische Ordnung um: Der Verrückte wirkt menschlicher als die Gesunden.
Damit wird »Der Blaumilchkanal« zu einem der hellsichtigsten Satireromane über die Moderne überhaupt. Was Kishon in den 1960ern über Tel Aviv schrieb, gilt heute für jeden überregulierten Staat. Auch in Deutschland entstehen täglich Miniaturversionen des Blaumilchkanals – wenn aus kleinsten Problemen ganze Gesetzesapparate wachsen, wenn #Verwaltung lieber kontrolliert als handelt, wenn #Aktionismus #Denken ersetzt.
Kishon karikiert nicht #Beamte, sondern das Prinzip der #Selbstrechtfertigung: den Drang, Existenz durch Aktivität zu beweisen. Ein Kanal muss fertiggestellt werden, weil er angefangen wurde. Ein Projekt darf nicht scheitern, weil es existiert. Fortschritt wird zur Fassade, und der Presslufthammer zum heiligen Werkzeug der Vernunft.
In dieser Logik liegt die #Tragikomik des Fortschritts: Systeme überleben sich selbst, indem sie immer weiter funktionieren, ohne zu wissen, warum. Kishon hat das erkannt, lange bevor Begriffe wie »Projektitis« oder »Regelungswahn« alltäglich wurden.
»Der Blaumilchkanal« bleibt so aktuell, weil er mehr über Macht erzählt als über Dummheit. Er zeigt, dass jede Gesellschaft sich selbst betrügt, sobald sie glaubt, Ordnung sei ein Wert an sich. Humor wird hier zur Aufklärung, Lachen zur letzten Wahrheit.
Der Irrsinn beginnt nicht, wenn einer mit dem #Presslufthammer loszieht. Er beginnt, wenn niemand mehr sagt, dass er damit aufhören soll.
Nachwort: Von Blaumilch zu #Bürokratie 4.0
60 Jahre nach Kishons Roman ist die #Baustelle #digital geworden. Die Presslufthämmer heißen heute #Prozessoptimierung, #Smart #Governance oder E Government – aber das Prinzip ist dasselbe. Systeme erzeugen Daten, die niemand braucht, um ihre Existenz zu rechtfertigen. Die Digitalisierung hat die Bürokratie nicht abgeschafft, sie hat sie nur beschleunigt.
Statt Stempeln gibt es nun Passwörter, statt Akten E Mails, statt Formularen Onlineportale – und doch folgt alles derselben Logik: Niemand will Schuld, alle wollen Fortschritt. Der moderne Blaumilch ist kein entflohener Irrer mehr, sondern ein Algorithmus, der weiter gräbt, solange ihn niemand anhält.
Kishon würde das lieben. Er hätte über das »digitale Venedig« einer vernetzten Welt gelacht, in der jeder Mausklick eine neue Abteilung schafft. Und er hätte wieder recht gehabt: Der #Wahnsinn der #Ordnung hört nie auf – er verändert nur sein #Werkzeug.
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